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Lesererzählungen

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Koreanische Kommilitonen
Heinrich Oppermann

Fotos (2): privat
Fotos (2): privat
Im Jahrgang 1955 waren wir eine sehr gemischte Studentengruppe in der Chemie an der TH Dresden. Vier Koreaner, fünf Vietnamesen, drei Chinesen, zwei Bulgarinnen und ein Grieche waren mit je einem deutschen Betreuer oder einer Betreuerin die so genannte Ausländergruppe. Wir männlichen Kommilitonen wohnten im Heim auf der Güntzstraße zusammen auf einer Etage; je zwei Ausländer, z. B. ein Chinese mit einem Vietnamesen gemischt und die zwei deutschen Studenten in einem Zimmer. Mein Teampartner war Kim Bjong Gol. Das Zimmer teilten wir uns mit Armin aus Halberstadt und Fu Nynan aus Vietnam.

Ihre Sprachkenntnisse waren leidlich, Deutsch hatten beide vorher nicht gelernt. Fu Nyuan beherrschte perfekt Französisch und Bjong Gol sprach einigermaßen Russisch. Die Vorlesungen waren für unsere ausländischen Kommilitonen anfangs sehr anstrengend und sie bekamen wenig mit. Auch im Praktikum hatten sie manche zusätzliche Nuss zu knacken. Ihre Zähigkeit, ihr Fleiß und ihre Ausdauer, gepaart mit ihrer Intelligenz, machten sie bald zu gleichwertigen Partnern und sie waren uns in Mathematik von vornherein überlegen. Wir ergänzten uns im Zimmer und über den Korridor und manches Elektron wurde erst spät in der Nacht von einem internationalen Team neu entdeckt oder in Lösung gebracht.

Die Gruppe entwickelte sich zu einer duften Truppe. Die Sprachprobleme waren bald überwunden und die Ausländer voll im studentischen Leben integriert. Die gleichen Interessen, die gleichen Schwierigkeiten im Praktikum und vor allem der gemeinsame Fußball auf der Kohlehalde hinter dem Heim, zu dem der Kapitän Jonny Frei und der Arrangeur Hjong Bä zu jeder freien Minute herausforderten, schmiedeten die Aktionseinheit. Dazu trugen aber auch die von den Mädchen veranstalteten Tee- und Erzählabende – Chinesen und Vietnamesen tranken ja fast bis zum Schluss ihres Studiums kein Bier – und der erste gemeinsame Fasching im Heim wesentlich bei. Sie passten sich in allen Lebenslagen gut an und auch die Leistungen stiegen nach anfänglichen Schwierigkeiten zur mittleren Güte auf und waren später mehr als gut, so dass die Gruppe auch die Sympathie der Assistenten und Professoren gewann.

Es war im Frühjahr 1956, als die „Kasernierte Volkspolizei“ schon in „Nationale Volksarmee“ umbenannt und umgerüstet worden war, und wir von einer Vorlesung zum Heim fuhren. Am Fucikplatz (jetzt Straßburger Platz) stieg ein Mädchen mit einem fesch und frisch Uniformierten ein, im Gedränge wurden die zwei getrennt. Das Mädchen stand vor mir auf der Plattform und wurde bei der Abfahrt kräftig geschleudert. Bjong Gol, der weiter in der Ecke stand, rief: „Heinrich, reich deine Tasche hinter, damit du beide Hände frei hast, du siehst doch, die junge Armee ist schon abgeschlagen.“ Wir verstanden uns also nicht nur chemisch.

© Oppermann: Dreißigjährige Wiederkehr des gemeinsamen Beginns; Bjong Gol: 4.v.l
© Oppermann: Dreißigjährige Wiederkehr des gemeinsamen Beginns; Bjong Gol: 4.v.l
Und so kämpften wir uns durchs Studium und erreichten das Diplom. Es gab Höhen und Tiefen, aber keine ernsten Probleme. Es imponierte immer wieder, mit welcher Disziplin unsere ausländischen Kommilitonen diese Jahre bewältigten, teils sechs, sieben und mehr Jahre fern ihrer Heimat. Auch in den persönlichen Bereichen wirkten sie ausgeglichen und gesund. Natürlich gab es auch freundschaftliche, mehr kameradschaftliche Beziehungen und auch einige Liebesbeziehungen zu deutschen Mädchen, auch Mitstudentinnen. Familiäre Konsequenzen und Bindungen traten aber in unserer Gruppe nicht auf.

Als wir gerade mit dem Diplom abgeschlossen hatten und unsere ausländischen Freunde noch in der Diplomabschlussphase oder kurz vor der Prüfung standen, wurden sie kurzfristig abberufen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien des Ostblocks und der Parteiführung Chinas (ausgelöst auf dem XXI. Parteitag der KPdSU in Moskau) hatten zur Folge, dass die zahlreich in den sozialistischen Ländern studierenden Chinesen, Koreaner und Vietnamesen abgezogen oder abgeschoben wurden. Sie hatten sich binnen weniger Tage abfahrbereit zu halten. Die Studenten wurden nervös, liefen unruhig umher, debattierten und liefen Gefahr, ohne Diplom die Heimreise antreten zu müssen. Der damalige Rektor, Kurt Schwabe – bei dem unsere zwei Helden in Physikalischer Chemie diplomierten –, erkannte die Kompliziertheit der Lage und reagierte schnell in einer fairen, väterlich wie politisch großzügigen Art. Alle Hochschullehrer mussten über Nacht die im Diplom stehenden ausländischen Studenten prüfen, so dass ihnen allen vor ihrer „Notabreise“ das Diplom ausgehändigt wurde, einigen noch am Bahnsteig.

Alle zwei Jahre treffen sich seitdem der Rest unserer Seminargruppe und deren Ehepartner zu einem gemeinsamen Tageswandern und Plaudern am Abend. Zur 30-jährigen Wiederkehr unseres gemeinsamen Beginns hatten Inge und ihr Mann, Hans Haselein, uns nach Schwerin eingeladen. Am Ende einer Besichtigungsfahrt erwartete uns ein Diplomatenwagen. Der stellvertretende Attaché der Koreanischen Demokratischen Volksrepublik Nordkorea, Oberstleutnant Kim Bjong Gol, überraschte uns durch seinen Besuch, in Begleitung seiner Frau Gil Suk und des fünfjährigen Zol Song. Er freute sich über die erstaunten Gesichter seiner schon leicht ergrauten deutschen Kommilitonen. Derweil er im maßgeschneiderten dunklen Anzug, vor der noch dunkleren Mercedeslimousine jugendlich frisch wirkte, mit pechschwarzem Haar, wie vor 30 Jahren ...