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Lesererzählungen

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Abenteuer Semesterferien
Fritz Rath

Zeit hatten wir im Sommer genügend, die Semesterferien währten meist drei Monate. Einer unserer Professoren, Prof. Bürgermeister, genannt der „Eiserne Gustav", pflegte uns zu raten: „Nutzen Sie Ihre Studentenjahre! Später haben Sie viel weniger Zeit."

Es war 1959, vermutlich zum Pfingstrummel in meiner Heimatstadt Mücheln/Geiseltal, als mir eine Kommilitonin unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer Reisemöglichkeit erzählte: Besorge dir eine briefliche Einladung eines Verwandten aus der BRD, und schon fliegt dich die ARTU, die Studentengemeinschaft der TU Westberlin, kostenlos von Berlin-Tempelhof nach Hannover oder Hamburg. Du musst nur fünf Westmark Schutzgebühr auf das Konto der ARTU einzahlen. Man fuhr also über die Sektorengrenze in Berlin, „tauchte unter" und eines Tages wieder auf.

Kurz entschlossen ernannte ich meinen Patenonkel aus Richen im Odenwald zu meinem leiblichen Onkel. Kaum hatte er mir die Einladung geschickt, trampte ich, ohne große Vorbereitungen, nach Berlin, „buchte" bei der ARTU und saß am 22. Juli in einer von der Studentengemeinschaft gecharterten, alten britischen Militärmaschine. In Hannover bekam ich in der Jugendherberge (JH) den BRD-Jugendherbergsausweis und JH-Gutscheine im Wert von 80 Mark, außerdem hatte ich etwas Ostgeld 1:5 getauscht. Das musste für eine vierwöchige Tramptour durch die BRD reichen. Zuerst ging es zum „Onkel", dann über Heidelberg nach München, natürlich ins Hofbräuhaus. Der für eine Mark erstandene Bierkrug blieb das schwerste Souvenir, denn viel Gepäck konnte man sich – schon damit man unauffällig über die Sektorengrenze kam – nicht leisten. Nachdem ich erfahren hatte, dass Österreich und die Schweiz den DDR-Ausweis für Tagestouren anerkannten, fuhr ich nach Salzburg, von dort weiter über Innsbruck zur Zugspitze, zum Bodensee, in die Schweiz. Die Franzosen ließen mich nicht über die Grenze, also trampte ich von Trier bis Koblenz, weiter nach Frankfurt, Köln, Bremen, Lübeck, Husum, Hamburg, Braunschweig. Am 19. August erreichte ich meinen Rückflug in Hannover. Leider war der Abflug auf den Abend verlegt worden, so dass ich im Dunkeln in Westberlin ankam und nicht mehr nach Hause trampen konnte. Ich wollte darum die Nacht im Wartesaal am Ostbahnhof verbringen – eine verhängnisvolle Entscheidung. Um Mitternacht kam die Kontrolle, und da ich keine Fernfahrkarte hatte, war ich sofort verdächtig und wurde in Gewahrsam genommen. In einer Gemeinschaftszelle sitzend, hörte ich durch die Tür die Verhöre und hatte Zeit, mir eine Ausrede zu überlegen. Die Tasche voll Souvenirs und Filmen (die später ein diskreter Fotograf entwickelte) – der Abbruch des Studiums, „Bewährung in der Produktion" waren nahe. Als ich zum Verhör beordert wurde, stellte ich demonstrativ meine Tasche auf den Tresen und erzählte reuevoll etwas von einem verspäteten Kino- und Bekanntenbesuch. Danach war ich wieder ein freier Mann.

Trotz dieser „Panne" hatte mich das Reisefieber gepackt, 1960 wollte ich nach Westeuropa. Ich belegte zwei Semester fakultativ Italienisch und Französisch, studierte Landkarten und deponierte Zeugnisabschriften in Westberlin, um – falls etwas schief gegangen und ich von der TU Dresden gefeuert worden wäre – im Westen weiter studieren zu können. Wiederum besorgte ich mir eine Einladung und flog pünktlich zum Ferienbeginn am 9. Juni nach Hannover. Dort versorgt mit Internationalem JH-Ausweis und -verzeichnis plus Gutscheinen reiste ich weiter in den Odenwald, um dort erst einmal vier Wochen Geld zu verdienen. Doch niemand stellte mich ein, da man in mir einen Spion vermutete. Erst dank einer Bürgschaft meines „Onkels" konnte ich als Steineklopfer im Landwirtschafts-Wegebau arbeiten. Meinen DDR-Ausweis hinterlegte ich im Landratsamt und bekam dafür einen BRD-Reisepass.

Mit 350 sauer verdienten Mark in der Tasche ging es am 17. Juli endlich gen Süden. In Straßburg nach Frankreich eingereist, trampte ich über Genf durch die Schweizer Hochalpen, wähnte mich weit weg von der Heimat. Bis mir in der JH Faulensee, tief im Alpental, über den Äther die bekannte Stimme Walter Ulbrichts entgegen scholl. In St. Gallen gelang es mir, meinen Cousin ausfindig zu machen, von dem ich nur wusste, dass er als Gärtner arbeitete. Nachdem ich etwa zehn Gärtnereien vergeblich antelefoniert hatte, spürte ich ihn endlich auf. Dies nur als Beispiel, wie vorsichtig alles geplant und durchgeführt werden musste, damit keine Information an die falsche Adresse geriet. Entsprechendes Herzklopfen verursachte folgende Begebenheit: In Wien, am Stephansdom, lief ich einem Kommilitonen in die Arme, der gerade ganz offiziell seine Oma besuchte. Ich musste ihm meine Geschichte bekennen, er hat später im Hörsaal nur vielsagend gelächelt!

Über Venedig und San Marino ging es dann nach Süden, am 31. Juli erreichte ich Pompeji. Da mir der Vesuv so nahe schien, beschloss ich, hin zu laufen. Acht Uhr früh ging ich los, doch der Weg wurde immer länger, steiler, einsamer. Schilder am Weg warnten vor Straßenräubern. In der Mittagsglut stand ich endlich völlig erschöpft und ausgedörrt am Kraterrand, und wen sahen meine müden Augen? Einen Cola-Verkäufer. Eine Cola für 200 Lire, das waren für einen armen Oststudenten immerhin sieben Mark, genoss ich tropfenweise.

Über Neapel und Rom führte mich mein Weg wieder nach Norden, nach Pisa, Florenz, Mailand, Genua, Monaco, Nizza. Auf dem Weg nach Marseille trampte ich durch verwüstetes Land. Hier war kurz zuvor die Flutwelle der geborstenen Talsperre von Frejus durchgewalzt.

Rhôneaufwärts wandte ich mich Richtung Lyon, Versailles und Paris. Waren die Italiener ausgesprochen tramperfreundlich gewesen und selbst im vollen Auto noch zusammen gerückt, erwiesen sich die Franzosen als Trampermuffel. Dennoch hatte ich das Glück, zu einem typisch französischen Picknick am Straßenrand eingeladen zu werden, mit Weißbrot, Leberpastete, Rotwein.

Paris war mir fünf Tage wert, zu Fuß abgelaufen, denn nur so kann man eine Stadt richtig kennen lernen. Die Märsche hatten freilich einen Nachteil: Meine einzigen Schuhe – Mokassins, die ich mir vor Reisebeginn in Westberlin für stolze 30 Westmarkt gekauft hatte – waren durchgelaufen, ebenso die Strümpfe über den aufgestoßenen Zehen. Von nun an musste ich meine Füße beim Trampen immer hinter meiner Tasche verstecken, damit ich nicht unseriös aussah. Die Schuhe haben heute noch als Souvenir einen Ehrenplatz.

Ich hatte dann in Paris-Nord das Glück, von einem Briten mitgenommen zu werden. Nachmittags waren wir auf der Fähre Calais – Dover, abends stand ich an der „Waterloo-Station" in London. Und wurde sofort von deutschen Touristen eingeweiht, dass man die U-Bahn-Automaten mit Zwei-Pfennig-Münzen überlisten und dadurch billig durch die Stadt fahren kann. Die Engländer waren wieder sehr tramperfreundlich, und sobald es gegen 17 Uhr ging, fuhren sie links ran und luden zum 5-Uhr-Tee ein. Bis Stratfort upon Avon und zur zerbombten Kathedrale von Dresdens Partnerstadt Coventry kam ich, dann musste ich eine Einladung, nach Edinburgh mitzufahren, ablehnen. Meine Urlaubszeit war ja begrenzt, und ich wollte noch die Benelux-Staaten sehen.

Nachdem ich schließlich in Brüssel, Rotterdam und Amsterdam war, erreichte ich in Aachen wieder Deutschland. Es folgte noch ein Abstecher nach Luxemburg, denn Radio Luxemburg war ja für uns im „Tal der Ahnungslosen" fast ein Heimatsender.

Hinter mir lag eine 10.300 Kilometer lange Reise, davon rund 1000 Kilometer per pedes. Mit dem Rücktausch des BRD-Reisepasses gegen meinen Personalausweis war ich wieder DDR-Bürger, nahm am 2. September meinen gebuchten Rückflug von Hannover nach Berlin, wartete diesmal die Nacht in Westberlin ab, passierte im Morgengrauen ungehindert die Grenzkontrolle in der S-Bahn nach Potsdam und war bald wieder zurück in Mücheln, wo die Reise vor einem Vierteljahr begonnen hatte. Am Montag, den 5. September saß ich wieder im Hörsaal, abgezehrt und ausgemergelt, aber mit unendlich vielen Eindrücken und Erinnerungen ausgestattet. Noch mehr als nach der ersten Fahrt musste ich lernen, zu schweigen ohne zu platzen. Wieder fand sich ein diskreter Fotograf, der meine 1230 Fotos entwickelte.

Für das Jahr 1961 hatte ich eine Amerika-Tour als Heizer auf einem Dampfer geplant, aber wegen des nahenden Diplomabschlusses kamen mir dann doch Bedenken. Die Ferienzeit hätte nicht gereicht, da ich mir ja erst hätte Geld erarbeiten müssen. Diejenigen von uns, die damals dennoch einen West-Trip wagten und denen die Mauer buchstäblich dazwischen kam, hatten zwei Möglichkeiten: Entweder sie kamen reumütig über die Grenze zurück und bekamen ein Jahr „Bewährung in der Produktion", oder sie blieben drüben, wie ein Kommilitone, der dann an der TH Darmstadt weiter studierte und dem wir die Beleg-Testate etc. aus den Lehrstuhl-Sekretariaten holten und nachsandten.

Nachdem nun der Weg nach Westen versperrt war, unternahm ich mit einem Freund 1962 nach dem Studienabschluss noch eine achtwöchige Tour durch Ungarn. Zu dieser Zeit war das Trampen dort noch neu und die sprichwörtliche ungarische Gastfreundschaft noch nicht überstrapaziert worden. Wir wurden zu Essen und Weinverkostung eingeladen, richtiggehend von Familie zu Familie weiter gereicht. Die Pecser Presse veröffentlichte sogar ein Interview mit uns. Als wir in Sopron das Schild „Wien 70 km" lasen, marschierten wir einfach naiv zur Grenze, um mal eben nach Wien zu trampen. Vier Stunden lang haben uns die Grenzer freundlich verhört, bis die Weisung kam, uns wieder zurück zu schicken. Für mich waren die Wanderjahre damit endgültig abgeschlossen, es kam die Zeit, da man drei Wochen Jahresurlaub reiflich mit der Familie einteilen musste.

Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man nach Jahrzehnten wieder an die Orte von damals kommt. 1987, nach 27 Jahren, durfte ich – diesmal legal – zum 60. Geburtstag meines Cousins in die Schweiz fahren, auf der Rückfahrt überraschte ich gleich noch meinen Patenonkel im Odenwald zum 70. Geburtstag. Ein Jahr später habe ich ihn nochmals zu meinem leiblichen Onkel erklären müssen, um an seiner Beerdigung teilnehmen zu können. 1991 brachte mich mein 16 Jahre alter 353er Wartburg nach 30 Jahren hinauf zum Rhônegletscher, und 1998 habe ich nach 36 Jahren alte Bekannte in Budapest, noch immer in der selben Wohnung, besucht. Und wenn sich heute mein Sohn als Student in Trier per Internet nach North Carolina einladen lässt und hinjettet, brauche ich mich nicht zu fragen, woher er das wohl hat, sage mir aber auch: Andere Zeiten – andere Sitten...