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Kai Kranich
Leiter Kommunikation
DRK Landesverband Sachsen e.V.
Bremer Straße 10d
D-01067 Dresden
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Im Sturm des Geschehens
Dagmar Möbius

Als Kind richtete Kai Kranich in Gedanken Museen ein. Studiert hat er Politik und Geschichte. Zwar kehrte er der Wissenschaft inzwischen den Rücken, doch Zeitgeschichte schreibt er trotzdem mit. Dafür wurde er sogar ausgezeichnet.

© news aktuell; Kai Kranich (Mitte) bei der Verleihung des PR-Bild-Awards 2016 in Hamburg, links Jens Petersen, Leiter Unternehmenskommunikation news aktuell, rechts Moderatorin Jule Gölsdorf.
© news aktuell; Kai Kranich (Mitte) bei der Verleihung des PR-Bild-Awards 2016 in Hamburg, links Jens Petersen, Leiter Unternehmenskommunikation news aktuell, rechts Moderatorin Jule Gölsdorf.
Anfang November 2016 wurden in Hamburg die Preisträger des PR-Bild-Awards gekürt. Unter den Gästen war auch Kai Kranich. Was er bis zum Termin nicht wusste: Sein Foto „Lesbos Friedhof der Rettungswesten“ wurde mit dem 1. Platz der Kategorie NGO ausgezeichnet. „Ich habe mich riesig gefreut, vor allem, weil hier viele professionelle Fotografen Bilder eingereicht hatten.“ Inzwischen ist für den gebürtigen Görlitzer wieder Berufsalltag. Seit April 2015 arbeitet er als Leiter Kommunikation des DRK Landesverbandes Sachsen e.V. Was ihn kurz nach Dienstbeginn mit der Flüchtlingskrise erwarten würde, konnte er nicht ahnen. Nach vielen Jahren wissenschaftlicher Arbeit und über fünfjähriger Tätigkeit als Projektleiter beim FORUM TIBERIUS Internationales Forum für Kultur und Wirtschaft e.V. Dresden bezeichnet er seine Bewerbung als „Entscheidung der Vernunft“.

Studiengang des Herzens
Zunächst jedoch galt seine große Leidenschaft der Geschichte. „Ich habe schon als Kind in Gedanken Museen eingerichtet“, erinnert sich der 34-Jährige. Für eine bessere Jobperspektive kombinierte er Politikwissenschaft mit Neuerer und Neuester Geschichte sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte: „Mein Studiengang des Herzens.“ Archäologie oder Jura wären Alternativen gewesen. Die Wahl des Studienortes zwischen Berlin, Leipzig und Dresden fiel zugunsten der TU Dresden. Hier hatten schon mehrere Familienmitglieder studiert. „Bei uns haben alle was mit Gartenbau zu tun, ich bin sozusagen das schwarze Schaf“, lacht er. Ein Praktikum im sächsischen Innenministerium weckte endgültig Lust auf das Studentenleben in Elbflorenz. Noch heute schwärmt er von der absolut freien Zeiteinteilung im Studium, der Selbstorganisation, kurz „der schönsten Zeit des Lebens, wenn man noch nicht die materiellen Ansprüche hat“. Und in der sogar Zeit fürs Ehrenamt blieb. Kai Kranich gehörte dem Fachschaftsrat der Philosophischen Fakultät an, initiierte und leitete zwischen 2006 und 2008 den Deutsch-Polnischen Studentenstammtisch an der TU Dresden. Zwischen 2002 und seinem Magisterabschluss 2010 lag ein Auslandstudium der europäischen und polnischen Geschichte, Politik und wirtschaftlichen Zusammenarbeit an der Universität Wrocl‚aw.

Systemisches Denken und ein jungfräuliches Archiv

„Die Kombination von Politik und Geschichte ist optimal, weil ein starker Methodenteil dabei ist“, sagt Kai Kranich. Totalitäre Systeme interessierten ihn im Studium besonders. Werner J. Patzelt, Professor für Politische Systeme und Systemvergleich, war ein harter, aber wertvoller Lehrer für ihn. „Er verlangte viel, vor allem abstraktes Denken. Und er sagte immer sinngemäß, ein deutscher Geisteswissenschaftler muss sich in jedes Thema einarbeiten können, auch autodidaktisch.“ Bei Professor Hans Vorländer lernte er nicht nur politische Ideengeschichte kennen, sondern „auch das Denken der Zeit und was sich daraus formte.“ Seinem Doktorvater Professor Peter E. Fäßler, heute an der Universität Paderborn, verdankt er spannende Themen über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hinaus. „Bei ihm lernte ich, verständlich und lesbar zu schreiben. Das kommt mir heute zugute“, lobt Kranich. Das Verstehen der Theorie fiel nicht immer leicht. „Man sieht etwas, setzt ein Puzzle zusammen und interpretiert es. So eine Denksportaufgabe dauert manchmal, bis man etwas richtig verstanden hat.“ Wie man in Geschichte durchfallen kann, ist dem Niederschlesier unverständlich. „Man muss brennen dafür“, sagt er. Endgültig begeistert war er, als er nach dem Grundstudium an der Universität Wroclaw „ein jungfräuliches Archiv vorfand“, an dem er sich „zehn Jahre abgearbeitet hat.“ Seine Forschungen im Rahmen seiner Magisterarbeit zur Aberkennung von 262 Doktorgraden jüdischer Wissenschaftler wurden überregional beachtet und trugen maßgeblich zu einer symbolischen Rehabilitation bei. Seine Doktorarbeit über den Aufstieg der Technikwissenschaften im Nationalsozialismus am Beispiel der Technischen Hochschule Breslau reichte er vor einem Jahr ein. Mehrere Stipendien ermöglichten ihm, zu studieren und zu promovieren, ohne nebenbei arbeiten zu müssen. „Das ist kein Hexenwerk, man muss natürlich etwas abliefern, aber es war eine einzigartige Erfahrung“, ermuntert er.

© Kranich; Kai Kranichs Magisterarbeit an der TUD wurde von den Professoren Werner J. Patzelt und Peter E. Fäßler betreut. Die Forschungsergebnisse über die "vergessenen Doktoren" erschienen 2011 in Deutsch, Englisch, Polnisch und Hebräisch.
© Kranich; Kai Kranichs Magisterarbeit an der TUD wurde von den Professoren Werner J. Patzelt und Peter E. Fäßler betreut. Die Forschungsergebnisse über die "vergessenen Doktoren" erschienen 2011 in Deutsch, Englisch, Polnisch und Hebräisch.

Die Flüchtlingskrise als zeithistorisches Ereignis
Sein Fachwissen bräuchte Kai Kranich in seiner jetzigen Tätigkeit nicht, sagt er. Doch politische Zusammenhänge muss er auch bei der Arbeit in einer globalen Non-Profit-Organisation kennen.
Von der im Studium erworbenen Problemlösungskompetenz profitiert er täglich. Eine klassische PR-Ausbildung hat er zwar nicht absolviert, doch ein roter Faden mit Erfahrungen in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zieht sich durch seine Biographie von der Schülerzeitung bis zu diversen Praktika in Ministerien. Während der Flüchtlingswelle war er täglich mit Journalisten in sächsischen Camps unterwegs. Rückblickend sagt er: „Die Krise erklärbar zu machen, ist zeithistorisch so was von relevant. Man macht etwas wirklich Wichtiges, ist quasi im Sturm des Geschehens.“ Teilweise bis an die physischen und psychischen Grenzen. Dabei musste er vieles eigenständig entscheiden und ist dankbar für das Vertrauen seines Chefs und die zahlreichen, reibungslos funktionierenden Kooperationen, unter anderem mit der TU Dresden. „Das Jahr 2015 war voller Ereignisse für drei Jahre“, blickt er zurück.

Fotografische Leidenschaft nicht um jeden Preis
Kai Kranich hat fast jede vom Deutschen Roten Kreuz Sachsen betreute Erstaufnahmeeinrichtung miteröffnet. Auch in Heidenau. Mit bereitgestelltem Schutzhelm. Obwohl er gern fotografiert, beschlichen ihn dort Hemmungen. „Die Helfer versorgten Verletzte nach den Krawallen in dem Sanitätspunkt der Erstaufnahmeeinrichtung. Ein verarzteter junger Mann im ‚Fuck-Asyl‘-Shirt bedankte sich mit Tränen in den Augen bei uns für die Hilfe. Ich habe nicht die Kamera draufgehalten“, erzählt der Berufskommunikator.

Inzwischen liegen täglich „1000 Sachen“ auf seinem Schreibtisch. Von Behindertenhilfe über Integration und Katastrophenschutz bis Wasserwacht. „Ich muss sondieren, wo gibt es eine schöne Geschichte, wo ist Alarm?“, beschreibt er und lobt sein „großartiges Team“. Mehrere der sieben Kollegen sind ebenfalls Absolventen der TU Dresden. Ein „Refugee-Guide-Book“ entstand im Haus, zurzeit wird Material zur Flüchtlingskommunikation in acht bis elf Sprachen für 20 Nationen entwickelt. Das spätere Siegerfoto für den PR-Bild-Award reichte übrigens die künftige Politikwissenschaftlerin und Praktikantin Caroline Brückner ein.
Helfer werden beim DRK immer gebraucht. Leute mit langfristigem Interesse werden gezielt ausgebildet und eingesetzt.

© Kai Kranich; "Lesbos - Friedhof der Rettungswesten", ausgezeichnet mit dem 1. Platz des PR-Bild-Award 2016 in der Kategorie NGO.
© Kai Kranich; "Lesbos - Friedhof der Rettungswesten", ausgezeichnet mit dem 1. Platz des PR-Bild-Award 2016 in der Kategorie NGO.

Selbsterfahrung auf Lesbos

Während einer Erkundungs- und Ausbildungsmission im März 2016 auf der griechischen Insel Lesbos entstand das spätere Siegerfoto. Es ist das Eindrucksvollste einer Serie. „Das Motiv der Rettungswesten spielt nicht mit Schicksalen, aber es bringt die menschliche Dimension zum Ausdruck“, lobte die Jury. „In der Zeit landeten keine Flüchtlinge mehr an, die Küste war dicht, die Balkanroute geschlossen. Vielleicht wollte ich das gar nicht erleben“, gibt Kai Kranich zu. Trotzdem nahm er freiwillig an einer Übung teil. „Wir fuhren um Mitternacht im Boot aufs Meer. Alle außer mir waren Rettungsschwimmer mit Ausrüstung. Suchtrupps sollten uns finden. Dann liefen die Boote voll, der Motor fiel aus, es war dunkel und kalt“, erzählt er. Er verstand, welche Ängste jemand aussteht, der keine drei Suchtrupps in der Nähe weiß. „Die Wahrnehmung ist reduziert und man konzentriert sich auf Fundamentales, ich hielt ein Seil.“ Er hat großen Respekt vor allen Helfern. Noch heute kommen ihm Bilder der vielen Schiffswracks auf Lesbos ins Gedächtnis: „Es waren so viele, dass sie teils abgebrannt wurden.“