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Lesererzählungen

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Vor 50 Jahren - Teil IX
Christian Müller

© An den letzten Schultagen fand infolge großer Hitze der Unterricht im Hof der ABF statt.
© An den letzten Schultagen fand infolge großer Hitze der Unterricht im Hof der ABF statt.
Im Teil VIII - das Jahr 1955 aus studentischer Sicht - führte ich u.a. aus "...aber es sollte noch schlimmer (für mich) kommen." Das geschah jedoch erst im 4. Quartal, hatte aber seinen Ursprung bereits früher. So z. B. in folgender Angelegenheit: Ich hatte einen Auftrag auf Auszug aus dem Wohnheim gestellt. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Erstens gefiel mir die Art Kasernierung nicht (im Teil VIII ausführlich beschrieben) und zweitens führte die Elblage des Heimes in Laubegast (ständig feuchte Luft, wobei die damals schlechten Ausdünstungen der Elbe noch verstärkend wirkten) bei mir zu ständigen Mandelentzündungen. Der Antrag wurde - ggf. mehrfach - abgelehnt, mit ärztlicher Unterstützung konnte ich mich aber schließlich durchsetzen und wohnte ab 1. März wie- der zu Hause in Großröhrsdorf. Zum Fasching wohnte ich aber noch in Dresden. Irgendwie müssen wir "das Kalb ausgetrieben haben", denn im Tagebuch steht "Erst früh nach Hause, Schule geschwänzt". Das war natürlich aufgefallen, denn wenige Tage später ist zu lesen "Verknackt (leider nicht notiert, zu was) wegen Bummelei Aschermittwoch." So streng waren die Sitten.
Am 25. Februar wurde der Kältenotstand verkündet, denn seit Ende Januar / Anfang Februar hatten wir teilweise bis zu -30°, Eisgang auf der Elbe und ständig erhebliche Zugverspätungen. Wahrscheinlich waren inzwischen u.a. die Kohlevorräte so geschrumpft, dass man sich heizungsmäßig einschränken musste. Eine Woche später wurde der Notstand aber bereits wieder zurückgenommen, da plötzlich starkes Tauwetter eingetreten war. So etwas ereignete sich in der DDR immer wieder. Selbst das Mähdrescherwerk - ein volkswirtschaftlicher Schwerpunktbetrieb und mein späterer Arbeitgeber - litt noch Ende der 80er Jahre unter winterlichen Einschränkungen.
Am 22. März wurde "10 Jahre ABF" begangen, jedoch nicht mit einer Feier, sondern mit einem Enttrümmerungseinsatz. Solche Einsätze finden sich noch weiter übers Jahr verstreut, sie dauerten in der Regel einen halben Tag. Über Pfingsten unternahm ich mit meinem Freund eine Radtour nach Westberlin, damals noch problemlos möglich, aber für ABF-Studenten nicht erwünscht und man tat gut daran, das nicht publik werden zu lassen. Hierbei möchte ich zeigen, dass wir - trotz aller Querelen an der ABF - loyal zum Staat DDR standen. Mein Freund hatte eine Freundin dort, ihre Eltern waren mit ihr vorher "abgehauen". Bei einem Gespräch sagte der Vater sinngemäß: "Wenn Sie mit studieren fertig sind, kommen Sie doch sicher zu uns herüber." Worauf wir sinngemäß antworteten: "Wenn wir in der DDR studiert haben, so wollen wir das Studium dort auch abarbeiten." Damit waren unser Aufenthalt dort und das Verhältnis meines Freundes zur Tochter umgehend beendet.
An der ABF blieb ich aber nach wie vor das Schwarze Schaf. Am 20. Juni geht’s mit dem "schlimmer kommen" definitiv los. Irgendwie hatte ich mich wegen meiner Jahresabschlussbeurteilung beschwert. Es gab einen großen Streit, in dessen Ergebnis wegen "Ihrer Frechheit" vom Klassendozenten Polhard (Chemie) ein Disziplinarverfahren gegen mich beantragt wurde. Da das aber erst im Oktober stattfand, soll hier erst einmal weiter das studentische Leben geschildert werden.
Die letzten Unterrichtswochen im Juli hatten wir teilweise Unterricht im Freien, d.h. im Hof der ABF, da es sehr heiß war. Am 18. Juli war Zeugnisempfang, verbunden mit einer Buchprämie und einem Blumenstrauß. Trotz Antrag auf ein Disziplinarverfahren!
Eine Woche später ging’s für zwei Wochen ins GST-Ferienzeltlager nach Breege-Juliusruh/Rügen. 3 Uhr ab Hauptbahnhof, 18 Uhr an Sagard und dann weiter nach B.-J. 15 Stunden auf der Bahn, insgesamt ca. 18 Stunden unterwegs.

© Badespass an den dienstfreien Nachmit- tagen. Der Autor, recht breitbeinig dasteh- end, in der Mitte.
© Badespass an den dienstfreien Nachmit- tagen. Der Autor, recht breitbeinig dasteh- end, in der Mitte.
"Viel Dreck und keine Organisation" habe ich unter dem Ankunftstag vermerkt. Wie liefen die zwei Wochen ab? Vormittags vormilitärische Ausbildung und nachmittags Freizeit fürs Badevergnügen. Sofort nach der Rückkehr arbeitete ich bis zum Studienbeginn am 10. September als Betriebsschlosser in der Tischfabrik Großröhrsdorf. Das Motorrad, für das ich in den vorangegangenen Jahren gearbeitet hatte, hatte ich zwar schon seit April (RT 125/2, damals eine begehrte Maschine, man musste Beziehungen haben, um eine zu bekommen), aber fürs Fahren braucht man auch Geld.

Das am 14. September ganz plötzlich mein Vater starb, ist zwar eine persönliche Angelegenheit, spielt aber bei dem Disziplinarverfahren bzw. dessen Folgen eine Rolle.
Dieses Verfahren fand am 8. Oktober statt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich dort nicht viel zu sagen hatte. Das Urteil stand wohl schon fest. Es lautete. "...enthält einen schriftlichen Verweis. Gründe: Der Disziplinarausschuss sieht auf Grund der Feststellungen in der Verhandlung, der aktenmäßigen Unterlagen und der eigenen Angaben des Beschuldigten als bewiesen an, dass er die Studiendisziplin wiederholt verletzt hat." Damit hätte ich leben können, aber der damit verbundene Entzug des Leistungsstipendiums von 80 DM (hatten wir damals) traf mich doch schwer, denn es war ja eine Verlust von 12 x 80 = 960 DM. Die FDJ-Gruppe hat zwar im folgenden Jahr mehrfach den Antrag gestellt, diesen Entzug aufzuheben bzw. wenigstens die Stufe 40 DM zu zahlen. Diese Anträge wurden aber abgelehnt. Aufgrund des Ablebens meines Vaters wurden mir jedoch einmalig 200 DM gewährt, so dass der Verlust noch 760 DM betrug. Bei einem Grundstipendium von 180 DM immer noch schmerzlich genug.
Aber manchmal scheint es so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit zu geben. Ersten hatte ich in den vorangegangenen zwei Jahren ca. 1500 DM "illegal" dazuverdient. "Illegal" deshalb, weil Ferienarbeit zu melden war und mit dem Stipendium verrechnet wurde. Ich hatte das aber - manchmal mit etwas Herzklopfen - nicht getan und den vollen Betrag kassiert. Und dann hatte ich fast mit dem Tage meiner "Verurteilung" eine Gönnerin kennen gelernt und hatte eine Zeit, die ich nicht mehr in meinem Leben missen möchte und die mir mehr wert war als der monetäre Verlust. Schließlich kam noch hinzu, dass mir die TU 1957 - ohne mein Zutun, aber auch ohne meinen "Einspruch" - einen Ausgleich bescherte, der dem erlittenen Verlust um ein Mehrfaches überstieg. Darüber mehr im Teil X nächstes Jahr.
Ich wollte mir aber trotzdem meine "Verurteilung" nicht gefallen lassen, wandte mich an alle möglichen Instanzen, einschl. eines Briefes an Walter Ulbricht, so dass am 28. Nov. eine nochmalige Verhandlung stattfand. Diese Mühe hätte ich mir sparen können.
Nun wieder etwas Erfreulicheres.

© Innig beim Tanz mit Frau P.
© Innig beim Tanz mit Frau P.
Am 15. Dezember fand unsere Gruppenweihnachtsfeier statt. Dort habe ich zum zweiten und letzten Male in meinem Leben gespürt wie es ist, wenn man kurz vor einer Alkoholvergiftung steht. Die Einzelheiten möchte ich mir ersparen, die Lehre hat gesessen. Auf dieser Feier ergab sich übrigens noch eine weitere Genugtuung für mich. Unser Klassendozent Polhard war mit Frau auch anwesend. Man hielt mir später vor, ich hätte mich mehr als erlaubt an die Frau "rangemacht", es sei mehr als ein Flirt gewesen. Nun ja, wenn’s schon stimmt, aber da gehören immer zwei dazu und trotz meines Rausches kann ich mich erinnern, dass Frau Polhard wohl nicht so abgeneigt war.

Am 21. Dez. war die Abschlussveranstaltung in der Stadthalle, am 22. der letzte Schultag und nach Weihnachten ging’s wieder ins Betriebsferienheim "Schäfermühle" in Waldbärenburg zum Skifahren.

Gibt es noch etwas, was wert ist, berichtet zu werden?

Im Frühjahr hatte ich neun Geschäfte in Dresden "abgeklappert", um eine Fahrradkette zu erhalten. Erfolglos. Charakterisiert die Versorgungssituation. Eine der ersten Fahrten mit dem neuen Motorrad führte nach Häslich/Kr. Kamenz zu Helmuth Kunath. Er hatte mit uns 1954 mit dem Studium begonnen, war aber wohl schon abgegangen, da es ihm sehr schwer fiel. Er war etwa 10 Jahre älter und auch Soldat gewesen.
Noch eine Kuriosität mit dem neuen Motorrad. Bei der Prüfungsfahrt für die Fahrerlaubnis hatte ich schon den ersten Unfall mit Krankenhausfolge für den anderen. Ein Radfahrer hatte ein Stoppschild missachtet und mir die Vorfahrt genommen. Die Prüfung habe ich trotz des Schocks bestanden, da es Fahrlehrer Höhne aus Pulsnitz verstand, mich zu beruhigen. Allerdings musste ich auf einem fremden Motorrad weiterfahren, denn die neue RT war auch etwas verbeult.