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Unbeirrbare Grenzgängerin im Unruhestand

Dagmar Möbius

Brigitte Böttcher könnte seit Jahren ihre Rente genießen. Doch die Fachphysiotherapeutin für psychosoziale Medizin forscht, lehrt und engagiert sich auch mit 75 Jahren für ihr Fachgebiet und für die Anerkennung beruflicher Lebensleistungen. Das brachte der Nichtakademikerin Respekt bei Medizinern, Therapeuten und Politikern. Und sie hat noch einiges vor.

„Mein beruflicher Werdegang ist bewegt“, fasst Brigitte Böttcher lachend zusammen. 1943 im Erzgebirge geboren und aufgewachsen, absolvierte sie nach Abitur und praktischem Jahr in einer Arztpraxis zunächst eine Ausbildung als medizinisch geprüfte Kosmetikerin an der Charlotte-Meentzen-Schule in Dresden. Es folgte eine zweijährige berufliche Tätigkeit an der Ostsee. 1966 nahm sie ein Lehramtsstudium am Pädagogischen Institut Zwickau auf. Postoperative Stimmprobleme beendeten das Studium als Lehrerin für Deutsch und Musik jedoch nach einem Jahr.

© D.Möbius; Brigitte Böttcher liest und forscht auch im Unruhestand weiter.
© D.Möbius; Brigitte Böttcher liest und forscht auch im Unruhestand weiter.
An ein dreijähriges medizinisches Fachschulstudium für Physiotherapie in Zwickau schlossen sich vielseitige Tätigkeiten im stationären und ambulanten Bereich sowie zahlreiche Weiterbildungen an. Mit 30 Jahren war Brigitte Böttcher staatlich anerkannte Fachphysiotherapeutin für funktionelle Störungen und psychische Erkrankungen. Seit 1973 arbeitete sie an der Medizinischen Akademie Dresden. Bis 1989 wirkte sie als Lehrtherapeutin für Konzentrative Entspannung in der ärztlichen Gesellschaft für Orthopädie und Psychotherapie der DDR. Beginnend 1990 mit einer Tätigkeit im städtischen Bezirkskabinett für Gesundheitserziehung Dresden folgten nach der Wende diverse Stationen als angestellte und freiberufliche Physiotherapeutin. Mit dem heutigen Universitätsklinikum Carl Gustav Carus war Brigitte Böttcher mit Unterbrechungen über vier Jahrzehnte verbunden. Dass ihre Kolleginnen und Kollegen der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik die langjährige Freiberuflerin zu ihrer Tagung anlässlich des 20-jährigen Bestehens im Herbst 2018 einluden, würdigt sie als „etwas Besonderes“ und lobt in der Erinnerung die offene und berufsübergreifende Zusammenarbeit“.

Rückblickend sagt sie: „Ich hatte das Glück, in der Ausbildung und in allen meinen praktischen Tätigkeiten, Persönlichkeiten mit hoher Fachkompetenz zu begegnen, die mir den Zugang zum Körper und dem Menschen in seiner Gesamtheit ermöglichten.“ Stellvertretend seien genannt: die Tanzpädagogin Edith Schulz-Fickert, Lehrerin für Grundgymnastik an der Zwickauer Physiotherapie-Fachschule, Dr. Anita Wilda-Kiesel, Fachphysiotherapeuten-Lehrerin an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Prof. Dr. Michael Scholz, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Dresden und Prof. Dr. Peter Joraschky, Leiter der Psychosomatischen Klinik und Ambulanz der Psychosomatik. So gelangte Brigitte Böttcher von der zunächst ergebnisorientierten, rehabilitativen Physiotherapie zur ganzheitlichen, prozessorientierten Sicht. Die eher zufällig gewonnenen Erfahrungs- und Erlebensperspektiven in den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern der Medizin weckten ihren Wunsch, ganzheitlich körperorientiert auch tänzerische und musikbezogene Elemente in die physiotherapeutische Einzel- und Gruppenarbeit zu integrieren.

„Komfortable Physiotherapie“ erlebte sie in den 1970er-Jahren in der Physiotherapie-Poliklinik der Medizinischen Akademie Dresden unter der Leitung von Katharina Knauth, die in steter fachlicher Verbindung zu Professor Edel vom Lehrstuhl für Physiotherapie stand. „Knauths Vorliebe für ganzheitliche Themen, von der Atemtherapie, der Bindegewebsmassage bis hin zur Ausdrucksgymnastik und Yoga brachte eines Tages die Bekanntschaft einer Elsa-Gindler-Schülerin mit sich! „Wir durften uns in einer Mittagspause  ausprobieren, zum Beispiel  auf den sogenannten Gindler-Stäben, zwischen zwei Stühlen aufgelegt und balancierend, eine mögliche Lösung findend oder nichtfindend“, erinnert sich Brigitte Böttcher. Die mangelnde „Übungsaufforderung“ war der Physiotherapeutin damals neu: „Es war mir zu wenig anleitend.“ Erst in der darauffolgenden Fachphysiotherapeutenausbildung zur Prophylaxe und Physiotherapie bei funktionellen Störungen und Neurosen verstand sie die personenbezogene Perspektive. Sie erzählt: „Meine erste praktische Atemtherapiegruppe mit Konzentrativer Entspannung war zunächst ein unsicheres Suchen der eigenen Therapeutenhaltung. Nicht – wie sonst üblich – korrigieren, sondern wertfrei einfühlen, bestätigen, den Patienten für sich selbst ‚erfahrbereit‘ werden lassen – ein völliger Neuanfang im Handeln!“

© D. Möbius; Die Fachphysiotherapeutin recherchiert begeistert in Fotoalben und historischen Dokumenten.
© D. Möbius; Die Fachphysiotherapeutin recherchiert begeistert in Fotoalben und historischen Dokumenten.
Viele Physiotherapeuten, aber auch Ärzte und Psychologen, wurden von Brigitte Böttcher in der Konzentrativen Entspannung (KoE) als Übungsverfahren der Körperwahrnehmung und Spannungsregulation ausgebildet. Seit den 1980er-Jahren in den physiotherapeutischen Fachgesellschaften, seit 1990 als Dozentin für Konzentrative Entspannung am Dresdner Institut für psychodynamische Psychotherapie. Die AOK Plus setzt Brigitte Böttchers Kursmanual Konzentrative Entspannung, das sie mit dem Psychologen Andreas Wenzel schrieb, seit 2011 zur Primärprävention ein. Seit 2016 ist das „Standardisierte Präventionskonzept Konzentrative Entspannung“ für die Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP) zertifiziert worden und wird nun von Krankenkassen als Primärprävention im Bereich Stressmanagement gefördert.

Als Nichtakademikerin hat Brigitte Böttcher zudem etwas geschafft, worauf sie stolz ist: 2015 und 2017 wurde sie von der Dresden International University als Zweitgutachterin für zwei Bachelorarbeiten von Physiotherapie-Studierenden  zum Thema „Schulgesundheitspflege“ bestätigt. „Die DIU ist aufgeschlossen für neue Dinge“, lobt sie und macht kein Hehl daraus, dass sie sich über unbewegliche Strukturen andernorts aufregen kann.

Die Liste ihrer Funktionen und Tätigkeiten ist lang. Was Brigitte Böttcher umtreibt, ist die (auch finanzielle) Anerkennung und Aufwertung ihres Fachgebietes. „Ich verstehe nicht, dass der hochqualifizierte Gesundheitsfachberuf der Physiotherapeuten ausgerechnet in der Psychosomatik und psychosozialen Medizin kein verordnungsfähiges fachspezifisches Handwerkszeug laut Heilmittelkatalog, vor allem ambulant, einbringen kann. Da fehlt die gleiche Verordnungsmöglichkeit, wie es für die Ergotherapeuten  lange schon möglich ist. Ob chronischer Rückenschmerz, Spannungskopfschmerz oder Bewegungsstörungen im Zusammenhang mit Burnout, Demenz oder bei psychosomatisch mitbedingten Körperstörungen – Physiotherapie ist ein medizinischer Fachberuf für den Körper und Bewegung an sich“, sagt sie.

Im Vorstand der 2005 gegründeten „Physiotherapeuteninitiative zur Gesundheitsförderung in öffentlichen Einrichtungen mit Gemeinschaftscharakter e.V.“ engagiert sich Brigitte Böttcher mit den Physiotherapeutinnen Carina Fischer und Heike Leonhardt. Der Verein erkundet die sächsische  Berufsgeschichte der Krankengymnastik und Physiotherapie, fördert aber auch Themen wie „Gesundheit und Schule“ und kooperierte über Jahre mit dem Gesundheitsamt Dresden für das Schulprojekt „Gesundes Pausenbrot“.

© D. Möbius; Zum 90. Jubiläum der in Dresden gegründeten Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage im Jahr 2009 präsentierte Brigitte Böttcher erstmals ihre Ausstellung.
© D. Möbius; Zum 90. Jubiläum der in Dresden gegründeten Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage im Jahr 2009 präsentierte Brigitte Böttcher erstmals ihre Ausstellung.
Als Hobbyhistorikerin konnte Brigitte Böttcher einige bis dato unbekannte Fakten erhellen. So machte sie beispielsweise das Grab des Mediziners Willem Smitt auf dem Dresdner St. Pauli-Friedhof ausfindig und sorgte mit Spenden ihres Vereins Physio-In dafür, dass dort seit 2007 eine Plakette an die Verdienste des Physiotherapie-Pioniers erinnert. „Smitt war zunächst im XII. Armeekorps der sächsisch-königlichen Armee tätig. Um 1900 ließ er sich in Stockholm in Schwedischer Heilgymnastik ausbilden und bildete dann in Dresden Gymnastikschwestern aus. Die sächsische Staatsregierung setzte den Professor als ersten Direktor der Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage ein“, berichtet sie.

Den früheren Dresdner Oberbürgermeister Dr. Ingolf Roßberg, bekanntlich TU-Absolvent, konnte Böttcher für eine Vor-Ort-Begehung der heute nicht mehr existenten Wielandstraße 2 gewinnen. Dort hatte am 2. Juni 1919 die Gründungsveranstaltung der Staatsanstalt stattgefunden. „Wir fanden heraus, dass sich das historische Gebäude auf dem Gelände der heutigen Hohen Straße 6 befunden haben muss. Der Ort beherbergte früher das Kaiser-Wilhelm-Institut, nach 1922 das Lederforschungsinstitut und heute das Leibniz-Institut für Polymerforschung.“

Ihre Forschungsergebnisse hat Brigitte Böttcher als Ausstellung konzipiert, die sie permanent erweitert. „Licht, Luft, Wasser, Bewegung – die sächsischen Anfänge der Krankengymnastik und Physiotherapie“ war 2017 im Schloss Burgk in Freital zu sehen. Im nächsten Jahr soll das 100-jährige Jubiläum der Staatsanstalt gefeiert werden. Träger der Veranstaltung ist das Universitätsklinikum Dresden. Der Verein Physio-In wird in die Vorbereitungen einbezogen, ebenso das Taschenbergpalais als Ort der Ausbildungsstätte von 1922 bis 1941.

Um den Inhalt ihrer Ausstellung für die Zukunft zu sichern, wünscht sich Brigitte Böttcher, die Tafeln zu digitalisieren.