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„Im Westen Kaserne, im Osten Manöver“

Dagmar Möbius

Im Herbst 2018 beging die Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität ihr 25-jähriges Bestehen. Doch die Geschichte der Fachrichtung beginnt nicht erst 1993. Sie reicht knapp 200 Jahre zurück. Daran erinnert eine im Oktober 2010 veröffentlichte Broschüre. In seiner Jubiläumsfestrede im Vorjahr veranschaulichte Gründungsdekan Ulrich Blum, heute emeritierter Professor, „ein Gefühl für die Zeit, in der wir den Aufbau dieser heute so erfolgreichen Institution bewerkstelligt haben“.

„Seit 1828 geht es an der Technischen Bildungsanstalt zunächst um die Ergänzung der Ausbildung mit praktischem und theoretischem Wirtschaftswissen für Techniker und Ingenieure. 1875 gibt es den ersten Lehrstuhl für Nationalökonomie und Statistik. Erst 1922 wird der Studiengang Volkswirtschaftslehre aus der Taufe gehoben. Eine eigenständige Fakultät gibt es erst ab 1950, die bis zur Wiedervereinigung Deutschlands durch staatliche Vorgaben geprägt war. Umso herausfordernder war der Neuanfang nach 1990. Heute hat sich die Fakultät zur größten wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der neuen Bundesländer entwickelt.“ (Quelle: Broschüre Wirtschaftswissenschaften in Dresden – von der Technischen Bildungsanstalt bis zur Technischen Universität (2010)

© Klaus Gigga; Prof. Ulrich Blum, Gründungsdekan der Fakultät Wirtschaftswissenschaften, während der Jubiläumsfeier.
© Klaus Gigga; Prof. Ulrich Blum, Gründungsdekan der Fakultät Wirtschaftswissenschaften, während der Jubiläumsfeier.

„Wer, wenn nicht wir?“, fragte sich Ulrich Blum, der sich schon immer sehr für den Osten interessierte, ihn aus familiären Gründen vor der Wende aber nicht besuchen durfte. Im Frühsommer 1989 schickte der damalige Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg einen Brief an das Innerdeutsche Ministerium und fragte, „wie man sich auf die möglicherweise bevorstehende Herausforderung einer europäischen und damit möglicherweise auch deutschen Einheit einrichte“. Die Antwort kam am 9. November 1989: „Die Einheit sei ein Desiderat der Forschung.“ Der Abend des Tages ging bekanntlich in die Geschichte ein.

Ehemalige Kollegen der technischen Fächer an der TU Karlsruhe berichten bald von erfolgreichen Kontakten zur TU Dresden (TUD). Daraus entwickelte sich eine Diskussion an der Bamberger Fakultät. „Und so entschlossen sich Professor Eduard Gabele und ich, die Universitäten der DDR zu erkunden“, erinnerte sich Professor Blum und berichtete über abenteuerliche Erfahrungen wie diese: „In Ilmenau traf ich niemanden an – konnte aber ein perfektes Buch über den Bau von Antennen erstehen. Das war damals in Bamberg ganz wichtig, um das Signal des äußerst schwach sendenden AFN-Fernsehens der US-Truppen zu empfangen – auch ein Erfolg. In Jena konnte ich mit einigen Mühen einen Kollegen zu einem Treffen bewegen. Für ihn organisierte ich ein Stipendium in Bamberg, das er damit verbrachte, sich Überleitungsvorschriften für DDR-Hochschullehrer in den Beamtenstatus der Bundesrepublik auszudenken, statt bei uns zu hospitieren und sich inhaltlich fit zu machen.“ In Leipzig traf er unter anderem Professor Kurt Biedenkopf. Professor Gabele hatte auf seiner Reise in den Osten ähnliche Erlebnisse. In Dresden forderten die Studenten den neuen Rektor (Landgraf) auf, „den westdeutschen Professor nicht einfach wieder wegfahren zu lassen. So entstand die sogenannte „Nachschulung“ der Examens- und Übergangsjahrgänge, in die sich Bamberger und Mannheimer Professoren einbrachten und in deren Folge Professor Gabele zum Gründungsdekan ernannt wurde.“

Prof. Ulrich Blum hatte eigentlich ein Freisemester geplant, ließ sich aber überzeugen, mit nach Dresden zu fahren und bei der Fakultätsgründung den gesamten Bereich Volkswirtschaftslehre, Statistik und Quantitative Verfahren zu übernehmen. Nach dem tragischen Unfalltod von Professor Gabele wurde er Vorsitzender der Ost-West-gemischten Gründungskommission an der TUD. „Wir stellten eine großartige erste Mannschaft zusammen“, sagt er und schwärmte von einer „Stimmung wie Sekt in der Luft“. Nicht zuletzt, weil die Geschwindigkeit der Handlungsabläufe im Vergleich zur Bürokratie im Westen einzigartig war. Kurz: „Im Westen war Kaserne, im Osten Manöver.“ Prof.Blum betrachtet den Gründungsprozess als weit mehr als eine administrative Aufgabe. Er sagt: „Eine Fakultät braucht eine Seele, und diese haben wir ihr damals gegeben.“

© Nils Eisfeld; Auch heute noch sind die Wirtschaftswissenschaftler im Hülße-Bau der TU Dresden zu finden.
© Nils Eisfeld; Auch heute noch sind die Wirtschaftswissenschaftler im Hülße-Bau der TU Dresden zu finden.

1992 folgte Prof. Blum dem Ruf auf den TUD-Gründungslehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung. Von Anfang an setzte er auf Internationalität. Das war nicht problemlos: „Viele westdeutsche Minister waren nicht bereit, mit Geld aus dem Westen im Osten bessere Universitäten als daheim zu finanzieren. […] Deshalb konnten wir beispielsweise das Credit-Point-System nicht einführen. Wir haben aber versucht, es über modulare Strukturen weitgehend zu simulieren. Die Berufungen waren teilweise ein Alptraum. Es fehlte nicht an geeigneten Kandidaten. Aber es verschwanden häufig Berufungsunterlagen aus den Büros.“ Deshalb übernachteten Mitarbeiter zu kritischen Terminen in der Universität. Auch Denunziationsbriefe trafen nicht nur vereinzelt ein.

Nichtsdestotrotz gelang es mit vielen wohlwollenden Kollegen, vor allem aus den technischen Fächern, einen der breitesten Wirtschaftsingenieurstudiengänge in Deutschland aufzubauen. Studiengänge wie Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftspädagogik kamen hinzu. Fächer wie Wirtschaftsmathematik und Wirtschaftsgeographie wurden teils an anderen Fakultäten koordiniert. Ganz ohne Kämpfe lief es allerdings nicht. So ging der ursprünglich bei der Fakultät Erziehungswissenschaften angesiedelte Gründungslehrstuhl „Wirtschaftspädagogik“ an die Fakultät Wirtschaftswissenschaften.
 
Prof. Blum verlor auch kritische Worte, z.B. über den Einkommensabstand zum Westen, über teilweise weltfremde Maßnahmen der Treuhand, oder noch zu lösende Hypotheken des Aufbaus Ost. Doch das werde nicht gelingen ohne Universitäten, ohne Forschung, ohne hochqualifizierte technische Hochschulen und ohne ein entsprechendes Umfeld an Forschungsinstituten. „Deshalb sind interne Kriegshandlungen gegen die Wirtschaftswirtschaften, die nun einmal die Kompetenz zu Fragen der Knappheit haben, ebenso sinnlos wie Kampagnen gegen die Entropiegesetze, wie wir sie bei der Energiewende erleben“, so der studierte Wirtschaftsingenieur mit technischem Schwerpunkt Maschinenbau.

© Klaus Gigga; Im Gespräch (v.l.n.r.): Die Professoren Hans Ulrich Buhl, Thomas Spengler, Michael Schefczyk (Dekan der Fakultät), Hans Georg Krauthäuser (Prorektor für Bildung und Internationales), Ulrich Blum; in der Mitte Frau Prof. Silke Geithner
© Klaus Gigga; Im Gespräch (v.l.n.r.): Die Professoren Hans Ulrich Buhl, Thomas Spengler, Michael Schefczyk (Dekan der Fakultät), Hans Georg Krauthäuser (Prorektor für Bildung und Internationales), Ulrich Blum; in der Mitte Frau Prof. Silke Geithner

„Wir haben uns in der Gründungsphase viel zugetraut, anderen mit Erfolg viel zugemutet und manche in ihrer traumatischen Verängstigung getroffen“, resümierte Prof. Blum. „Insofern waren wir auch Handelnde und Beobachtende unseres eigenen sozialen Milieus, der großen und der vielen kleinen Transformationen. Mystiker aller Zeiten und Religionen haben erkannt, dass der Widerstand (hier gegen Ängste) das Leid erzeugt und die Befreiung durch das Annehmen (auch der Ängste) erfolgt. Vielen im Osten ist das gelungen, manchem im vermeintlich aufgeklärten Westen bis heute nicht. Für mich und meine Mitstreiter war es besonders zu erleben und körperlich zu erfahren, wie sich Menschen in unseren Prozess ohne Garantie des Gelingens einlassen und vertrauen konnten, sich öffneten, auf das Leben einließen und gewissermaßen ihren Schöpfungsauftrag auch in eigener Sache annahmen. Diese oft sehr persönlichen Erlebnisse nährten, sie gingen unter die Haut und füllten unser Glücksportfolio.“

Die heutige Fakultät habe die zentrale Aufgabe, das Unternehmerische in jungen Menschen zu fördern und aussichtsreiche Pfade für die Zukunft zu beschreiten. Das tun zu können und dabei Erfolg zu haben, wünschte Prof. Blum – 2004 auf den Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen – zum Abschluss seiner Festrede der Fakultät, der Stadt und dem Land.

Kurzporträt
An der TUD-Fakultät Wirtschaftswissenschaften lernen ca. 2300 Studierende. Sie können zwischen zwei Bachelorstudiengängen (Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftspädagogik), zwei Diplomstudiengängen (Wirtschaftsingenieurwesen, Wirtschaftsinformatik) und drei Masterstudiengängen (BWL, VWL, Wirtschaftspädagogik) wählen. Mit 22 Professuren und zwei Juniorprofessuren in den Fachgruppen Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik ist die Forschung der Fakultät breit aufgestellt, interdisziplinär ausgerichtet und durch eine stark methodisch orientierte Herangehensweise geprägt. Seit einigen Jahren sind die Forschungsaktivitäten verstärkt auf Anknüpfungspunkte zu technischen Fächern fokussiert. Dieses technikaffine Gesicht zeigt sich in der Arbeit der Professuren für Wirtschaftsinformatik, Energiewirtschaft, Logistik, Industrielles Management, Entrepreneurship und Innovation sowie der aus Mitteln der Exzellenz-Initiative finanzierten Nachwuchsforschergruppe Wissens- und Technologietransfer. Die Fakultät hat aber auch ein sozialwissenschaftliches Standbein, das besonders durch die Professuren der Volkswirtschaftslehre, die Wirtschaftspädagogik und Teile der Betriebswirtschaftslehre getragen wird.

© panthermedia.net - GeorgiMiriniov
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